Nicht nur im Alltag, sondern auch beim Reisen sind queere Menschen vor Herausforderungen gestellt – wir haben Tipps für dich, wie du sicher unterwegs bist.
Ungarn hat ein queer-feindliches Gesetz verabschiedet, immer wieder berichten die Medien von gewaltvollen Angriffen auf LGBTQI+ Menschen und mehr als jede dritte homosexuelle oder transgeschlechtliche Person erlebt Diskriminierung im Arbeitsalltag: Auch im Jahr 2021 ist das immer noch die traurige Realität. Auch beim Reisen sehen sich queere Menschen immer wieder vor herausfordernde Situationen und enorme Sicherheitsrisiken gestellt. Wir haben mit Christopher Schreiber vom Lesben- und Schwulenverband in Deutschland, kurz LSVD*, darüber gesprochen, welche Hürden queere Reisende erwarten, wie sicheres Reisen als queerer Mensch möglich ist und warum jede:r sich für das Thema verantwortlich fühlen sollte.
Betty
„Was Reisen für mich so besonders macht? Nicht nur die schönen Orte dieser Welt, sondern vor allem die Menschen, die dort leben und die spannendsten & bewegendsten Geschichten auf Lager haben."
Betty, FairAway Redaktion
Vielleicht hast du bei der Einleitung gestutzt – wir sind auf jeden Fall zu Beginn unseres Gesprächs mit Christopher Schreiber direkt über den Zungenbrecher LGBTQI+ gestolpert und haben erstmal einen kleinen Exkurs über die „richtige“ Bezeichnung eingelegt. Und auch im Laufe des Interviews sind immer wieder Wörter gefallen, bei denen es Erklärungsbedarf geben könnte. Deswegen findest du ganz am Ende dieses Textes ein kleines Glossar.
Sicher reisen als queerer Mensch – ein Expertengespräch
Queere Menschen und Reisen: Das ist der Status Quo
Von umfassender Gleichberechtigung in Kanada oder Schweden über partiell sehr freie Orte in ansonsten eher katholisch-konservativen Ländern, wie z. B. die Zona Rosa in Mexiko City, bis zur Todesstrafe im Jemen oder im Iran – LGTBQI+ Rechte werden weltweit sehr unterschiedlich gehandhabt. Dabei gibt es natürlich einen Unterschied zwischen formeller Rechtslage und Praxis, erklärt Christopher Schreiber vom LSVD. „Wir wissen, dass es in manchen Ländern schwierig ist, da braucht man sich ja nur die Rechtslage anschauen. Aber was das konkret für das Reisen bedeutet, ist noch einmal etwas anderes. Man muss verschiedene Aspekte beachten und auch innerhalb der Community differenzieren. Für manche ist es einfacher zu reisen als für andere, je nachdem auch, wie das individuelle Passing ist. So macht es einen Unterschied, ob man auf den ersten Blick als transgeschlechtlich gelesen wird oder ob man als lesbische Frau noch zusätzlich sexualisierte Gewalt im Reiseland erfahren könnte.“ Viel zu beachten, doch wo fängt man an, wenn man als queerer Mensch eine Reise plant?
Orientierung durch den Gay Travel Index
Orientierung über die Situation für queere Menschen in den Ländern dieser Welt liefert der Spartacus Gay Travel Index, der 2020 zum achten Mal erschienen ist und über 200 Staaten nach 17 Kriterien vergleicht. Dabei werden Plus- und Minuspunkte vergeben, sodass am Ende ein Ranking entsteht, an dem sich Reisende in Sachen Sicherheit und Toleranz orientieren können.
Hier geht's zum Spartacus Gay Travel Index
Gleichzeitig kann ein solches Ranking immer nur den Rahmen beschreiben. „Zum einen kann leider jedem queeren Reisenden an jedem Ort der Welt, sei er auch noch so queer-freundlich, Alltagsdiskriminierung begegnen. Zum anderen ist die Situation oft auch innerhalb eines Landes unterschiedlich. Nehmen wir zum Beispiel einmal Russland: Das Land liegt mit seinen diskriminierenden Gesetzen wie dem sogenannten Homo-Propagandagesetz und der sehr konservativen Regierung im Ranking auf Platz 161. Beispielsweise in Moskau gibt es aber eine sehr aktive queere Szene – zwar im Untergrund, aber es gibt sie. Und dann ist da noch Tschetschenien, das eine Teilrepublik Russlands ist, wo queere Menschen brutal verfolgt, eingesperrt und gefoltert werden. Völlig zurecht auf dem letzten Platz im Ranking.“
Die Plätze auf dem Siegertreppchen gehen beim Gay Travel Index übrigens aktuell an Kanada, Malta und Island, hier ist die Rechtslage sehr gut und es gibt viele Angebote. Und wo steht Deutschland eigentlich in dem Ranking? „Aktuell auf Platz 10 – Deutschland ist durch die Ehe für alle und das dritte Geschlecht ein paar Plätze aufgerückt. Hier bewegt sich im Tourismus viel: In Berlin gibt es z. B. seit 2013 die Initiative Pink Pillow, der bereits sehr viele Hotels beigetreten sind, um auszudrücken, dass bei ihnen jeder Gast so sein darf, wie er möchte.“
Hier findest du mehr Informationen zur Pink Pillow Initiative
Individuelles Sicherheitsgefühl – oder eine Frage der Moral?
Es ist eine sehr individuelle Entscheidung, welche Länder man als queerer Mensch bereisen möchte. „Was natürlich für viele Reisende aus der Community den Ausschlag gibt, ist die rechtliche Lage. Die Frage, ob ich wegen gleichgeschlechtlicher Handlungen ins Gefängnis kommen kann – in manchen Ländern gibt es sogar die Todesstrafe. Es gibt aber auch viele Leute, die abwägen und davon ausgehen, dass sie ein heterosexuelles Passing haben und daher auch in rechtlich gefährliche Länder wie die Vereinigten Arabischen Emirate reisen können. Und es macht auch einen Unterschied, wo man sich aufhält – in einem All-Inclusive-Hotel in Ägypten werde ich weniger Diskriminierung erfahren, als wenn ich in einem kleinen Dorf auf dem Land Händchen halte.“
Wir fragen Christopher, ob es für viele auch eine moralische Frage ist, nach dem Motto „Die Wirtschaft dieses Landes möchte ich nicht unterstützen“. Christopher nickt: „Wertebasierte Haltungen sind definitiv ein Thema, da gibt es auch eine ganz aktuelle Umfrage zu. Gerade die unter 40-Jährigen haben zu über 60 Prozent bejaht, dass das für sie eine Rolle spielt. Sie achten darauf, ob Hotels sich Diversity und Inklusion auf die Fahne schreiben. Sie wollen anerkannt werden in Ländern, die sie bereisen, und die Wirtschaft nicht unterstützen, wenn das nicht der Fall ist. Anderen wiederum ist es nicht wichtig, die wollen einfach eine gute Zeit haben. Auch das spiegelt die Vielfalt der Community wider, beides ist ok und zu akzeptieren.“
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Und was ist noch wichtig?
Christopher: „Ist die Regenbogenflagge gehisst, vermittelt das für viele ein erstes Gefühl der Sicherheit. Genauso hilft das Gefühl, sich wirklich informieren zu können. Zum Glück gibt es mittlerweile sehr viel Infomaterial für queere Reisende, auch in Form von Blogs und Social-Media-Kanälen. Und auch konkrete Angebote wie zum Beispiel vom transgeschlechtlichen Schauspieler Brix Schaumburg, der eine Camping- und Van-Gruppe für Regenbogenfamilien bei Facebook gegründet hat. Als Regenbogenfamilie ist man schnell sichtbar queer und dadurch Diskriminierungen ausgesetzt. Aber im Urlaub möchte man sich entspannen und nicht die ganze Zeit überlegen müssen, wie man gesehen wird. Einfach unbeschwert sein. Deswegen finden sich über die Gruppe Familien und verreisen zusammen. So etwas gibt es auch für queere Pilger. Also im selbstorganisierten queeren Tourismus tut sich da viel – ich denke das ist ein Zeichen, dass auch im organisierten Tourismus noch viel Luft nach oben ist.“ Das ist unser Stichwort.
Die Verantwortung von uns als Reiseveranstalter
Wir fühlen uns prompt ertappt, weil wir uns bisher auf unserer Website nur ganz am Rande, in unserem Verhaltenskodex zum Thema äußern. Wir fragen Christopher, ob Reiseveranstalter hier in der Verantwortung sind. Seine Antwort ist sehr deutlich: „Absolut! Wir als LSVD sind davon überzeugt, dass Politik und Zivilgesellschaft, aber auch Unternehmen etwas ändern müssen. Queerfeindlichkeit ist ein Querschnittsthema, deswegen muss der Querschnitt der Gesellschaft sich hierzu auch Gedanken machen. Im Speziellen Reiseveranstalter sollten Kund:innen transparent auf die Thematik hinweisen und sich klar positionieren in Verhandlungen mit Ländern, auch wenn man „nur“ Kooperationspartner ist. Es geht darum, vor Ort zu sensibilisieren und klar zu sagen, dass man queerfreundlich ist.“ Hier sieht Christopher eine positive Entwicklung: Neben kleinen Reiseveranstaltern, die gezielt LGBTQI+-Reisen anbieten, haben mittlerweile auch große Reiseveranstalter das Thema auf dem Zettel und tun konkret was dafür, dass sich queere Menschen auf Reisen sicher fühlen. Natürlich stecke hier auch Marketing dahinter, aber auch das Bewusstsein der Corporate Responsibility sei stärker geworden.
Queerfreundliche Reisen als konkretes Angebot?
Ob wir konkrete Reisen als queerfreundlich kennzeichnen sollten, fragen wir. Christopher antwortet: „Reisen ist so individuell wie die Menschen sind, deswegen ist es schwierig, da eine grundsätzliche Kategorisierung vorzunehmen. Aber man könnte etwas integrieren wie einen Infokasten, der aufzeigt, auf was man aufpassen sollte. Auch z. B. in Hinblick auf HIV. Es gibt tatsächlich Länder, in die darf man mit HIV nicht einreisen. Jordanien beispielsweise. Zwar ist ein HIV-Test erst ab einem Aufenthalt länger als 30 Tage Pflicht, aber wenn man als positiv „auffliegt“, wird man ausgewiesen und kann davor in Abschiebehaft kommen – wenn Medikamente währenddessen ausgehen, ist das eine lebensbedrohliche Situation. So etwas muss man als Reisende:r einfach im Vorfeld wissen, und darüber sollten Reiseveranstalter informieren.“ Wir müssen zugeben, dass wir davon absolut gar nichts wussten.
Und was machen wir jetzt mit unserem neuen Wissen?
Wir haben uns nach dem Gespräch mit Christopher auf die (Regenbogen-)Fahne geschrieben, das Thema aktiv anzugehen, unsere Reiseexpert:innen ins Boot zu holen und unsere Reisenden künftig besser zu informieren.
Uns ist bewusst, dass wir auch Länder anbieten, in denen die rechtliche Lage problematisch ist – wie Tansania –, und möchten alles Mögliche tun, dass unsere Reisenden sich vor Ort sicher und willkommen fühlen. Und wir möchten dazulernen und sind jederzeit dankbar für Feedback und Tipps von queeren Reisenden per E-Mail an [email protected].
Auf einen Blick: Tipps für sicheres queeres Reisen
1. Am Gay Travel Index orientieren
Der Spartacus Gay Travel Index schlüsselt sehr gut auf, was für welches Land gilt. Hiermit kannst du sehr gut abwägen, welche Reiseländer für dich persönlich in Frage kommen.
2. Sich darüber hinaus tagesaktuell informieren
Ob Blogs, Apps, die IGLTA (kurz für The International LGBTQ+ Travel Association) oder das Auswärtige Amt: Nutze alle Quellen, die du zur Verfügung hast, und achte auf die Aktualität der Angaben. Wie wir durch Corona gelernt haben, kann sich jeden Tag etwas ändern.
3. Auf alles vorbereitet sein
Ob Gesundheitstest, kritische Fragen von Behörden und Menschen auf der Straße, Feindseligkeiten und verwirrte Blicke oder Probleme bei Grenzübergängen: Als queere:r Reisende:r solltest du leider auf vieles gefasst sein und dir ein dickes Fell zulegen.
4. Im Zweifel zurückhalten
Auf unsere Frage hin, was er queeren Reisenden empfehlen könne, antwortet Christopher sehr klar: „So blöd es auch klingt und so traurig es auch ist: Am sichersten reist man in einer gleichgeschlechtlichen Partnerschaft, wenn man sich in der Öffentlichkeit zurückhält, sich nicht küsst oder Händchen hält.“ Gerade in Ländern, in denen die Rechtslage prekär ist, kann es sonst gefährlich werden. Schwieriger ist es für transgeschlechtliche Personen, die durch ihr Äußeres oder auch durch die Stimme eventuell gar nicht „unauffällig“ sein können.
5. Wichtige Dokumente parat haben
„Wenn die Papiere einer transgeschlechtlichen Personen noch nicht angepasst wurden oder sie in den Augen von Kontrolleur:innen nicht zum individuellen Erscheinungsbild passen, kann das zum großen Problem werden beim Reisen – das ist ein Stressfaktor, den man reflektieren muss“, erklärt Christopher. Umso wichtiger ist es, sich bestmöglich vorzubereiten, indem man alle vorhandenen Dokumente und Belege im Gepäck hat.
Glossar
LGBTQI+: Die Abkürzung bezeichnet Menschen mit unterschiedlichen Identitäten oder sexuellen Orientierungen und heißt ausgeschrieben Lesbian, Gay, Bi, Trans, Queer und Intersex. Das „+“ drückt aus, dass es noch mehr gibt, zum Beispiel pansexuell oder asexuell.
Queer: „Queer“ ist ein Anglizismus und wurde früher als Schimpfwort benutzt im Sinne von „seltsam“, bevor die Community den Begriff als Selbstbezeichnung positiv besetzt hat. Auch queer bezeichnet alles, was von der heteronormativen Geschlechternorm abweicht.
Transgender: Der Begriff Transgender bezeichnet Personen, deren Geschlechtsidentität nicht oder nicht vollständig mit dem Geschlecht übereinstimmt, was nach der Geburt anhand der äußeren Merkmale festgelegt wurde. Auch die Ablehnung einer binären Zuordnung fällt darunter.
Passing: Passing bedeutet, als das Geschlecht gelesen bzw. anerkannt zu werden, als dass eine Person gelesen bzw. anerkannt werden möchte.
Heteronormativ: Heteronormativ bezeichnet die soziale Erwartung der Gesellschaft, wie Frauen und Männer als Norm zusammen zu leben zu haben.
Regenbogenfamilie: Eine Regenbogenfamilie ist eine Familie, die nicht heteronormativ geformt ist, sondern in der mindestens ein Elternteil entweder gleichgeschlechtlich liebt oder transgeschlechtlich lebt. Eine Regenbogenfamilie kann auch eine Wahlfamilie sein.
Dieses Glossar ließe sich noch viel weiter fortsetzen, jedoch beschränken wir uns aus Platzgründen an der Stelle auf die Begriffe, die für die Lektüre des Artikels hilfreich sind.
* LSVD: Der Schwulen- und Lesbenverband Deutschland steht für Menschenrechte, Respekt und Vielfalt und vertritt als Bürgerrechtsverband die Interessen und Belange von Lesben, Schwulen, Bisexuellen sowie trans- und intergeschlechtlichen Menschen. Das Ziel: Dass queer-Sein als selbstverständlicher Teil der Gesellschaft und als Norm anerkannt wird.
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